Statement zum Artikel „Wenn Anderssein einen fast umbringt“ der Oberhessischen Presse

Das Autonome Schwulenreferat kritisiert den Artikel „Wenn Anderssein einen fast umbringt“ vom 18.06.2023 von Silke Pfeifer-Sternke (veröffentlicht auf op-marburg.de). Der Artikel reiht sich ein in ein Muster fragwürdiger Berichterstattung über Queere Lebensrealitäten in Marburg und stellt aus unserer Sicht den Tiefpunkt eben jener dar. Queerfeindliche Narrative werden unkritisch reproduziert, das Opfer eines grausamen queerfeindlichen Angriffs wird einmal mehr bloßgestellt und es wird victim blaming betrieben.

Schon im Titel stellt die Autorin fest, dass es das „Anderssein“ war, das S fast umgebracht habe, was wir für eine grobe Fehleinschätzung halten. Im Untertitel wird die Frage aufgeworfen, was S zu einem Opfer mache. Es geht folglich im Artikel nicht darum wie es zu der Tat kam oder welche menschenfeindlichen Ansichten zu der Gewalttat geführt haben. Nein, diese Frage impliziert, dass eine alleinige Änderung seines Verhaltens oder ein anderes Aussehen die Tat hätte verhindern können. Aus unserer Sicht ist dieses Vorgehen ein klassisches Beispiel für Täter-Opfer-Umkehr.

Auch im Artikel selbst wird diese fragwürdige Interpretation weitergesponnen. Die einzig relevante Frage scheint auch hier zu sein, wie S sich hätte anpassen können, um eben nicht als „anders“ aufzufallen. Wenn wir hier dem Narrativ des Artikels folgen, sind queer gelesene Menschen also selbst Schuld wenn sie gewaltsam attackiert werden, weil sie ja nicht „normal“ aussehen und „anders“ sind. Außerdem wird mehrmals erwähnt, dass er zum Tatzeitpunkt betrunken war, obwohl dieser Fakt in keinem Zusammenhang zu der Grausamkeit der Tat selbst steht. Würde ein solches Vorgehen auch bei Opfern anderer Gewaltverbrechen praktiziert? Zwangsläufig stellt sich die Frage, ob die Autorin die Ansicht vertritt, dass das Opfer zumindest eine Mitschuld an der Tat trägt. Die sehr detaillierte Beschreibung von S Erscheinungsbild verstärkt diesen Eindruck, indem ausschließlich jene Eigenschaften beschrieben werden, die dem stereotypischen Auftreten eines schwulen Mannes entsprechen. Diese Form der Personenbeschreibung folgt unkritisch der Täterperspektive. S wird dadurch unterstellt, sich „schwul verhalten“ zu haben, was offensichtlich komplett unsinnig ist, da man sich nicht „schwul verhalten“ kann.

„Offenbar wurde der Student krankenhausreif geprügelt, weil er anders ist. Dabei fühlt er sich gar nicht queer. Er fühlt sich so, wie er ist, ok.“
An dieser Stelle wird spätestens klar, worauf der Artikel offensichtlich inhaltlich hinaus möchte: Es gibt auf der einen Seite Menschen, die sich „ok fühlen, so wie sie sind“ und auf der anderen Seite gibt es queere Menschen. Was für eine unglaubliche Unterstellung! Es wird unterstellt, dass etwas falsch damit sei queer zu sein, konkret sich als Mann „untypisch“ zu kleiden und zu verhalten. Man könnte den Eindruck gewinnen, hier wird verschriftlicht, was sich die Täter denken könnten. Wer so etwas schreibt, kann beim besten Willen keine Ahnung von queeren Lebensrealitäten haben. 

Auch etwas später im Text, als S erzählt, er habe seine Erlebnisse verarbeitet, werden keine Mühen gescheut, um Zweifel an dieser Aussage zu sähen. Die Aussage, Angst könne er sich nicht erlauben, bestärkt nicht nur das Stereotyp, Männer müssen stark sein und ihre Emotionen im Griff haben, sondern liefert auch eine fragwürdige Sicht auf Opfer von Gewalttaten.

Trotz seines offenbar geäußerten Wunsches nach mehr Anonymität, wurde sich dafür entschieden den Artikel in dieser Form zu veröffentlichen und ihm sogar zusätzlich noch zu unterstellen, er wisse nicht, was er sage, und habe noch viel über sich selbst zu lernen. Nicht einmal vor einer Anzweiflung seiner mehrmals explizit genannten Heterosexualität wird zurückgescheut.

Nicht das „Anderssein“ birgt ein enormes Risiko für gewaltvolle Übergriffe, sondern homo- und queerfeindliche Täter, die sich durch gesellschaftliche Kräfte zu Gewalt legitimiert fühlen. Es ist ein Skandal, dass die Schuldfrage im Artikel nicht nur verwischt und undeutlich gemacht wird, sondern dass der Eindruck erweckt wird, queere Menschen, bzw. Menschen die für queer gehalten werden, würden eine erhebliche Mitschuld tragen, wenn ihnen Gewalt widerfährt. Es kann nicht sein, dass die Oberhessische Presse über Opfer gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in dieser Form berichtet und die Geschehnisse so undeutlich werden lässt. Insofern macht sich die Oberhessische Presse durch den Artikel zu solch einer gesellschaftlichen Kraft, die die Täternarrative unkritisch reproduziert und letztlich Gewalt legitimiert. Das kann nicht der Anspruch einer seriösen Tageszeitung sein.

Wir fordern die Oberhessische Presse und die Autorin Silke Pfeifer-Sternke dazu auf zu der von uns geäußerten Kritik öffentlich Stellung zu beziehen. Weiterhin fordern wir, dass die Redaktion der Oberhessischen Presse kritisch reflektiert, wie sie über queere Menschen und deren Lebensrealitäten, über gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und über Opfer von Gewalttaten berichtet. Offensichtlich gibt es in weiten Teilen der Redaktion große Wissenslücken über diese drei Themenfelder, die es dringend aufzuholen gilt.